18
Rads Auftritt als Benedick wurde im Radley-Haushalt als Ereignis von gewisser Bedeutung angesehen. Eine ganze Reihe wurde reserviert, damit eine wachsende Gruppe von Freunden und Angehörigen Platz fand - ich, Lawrence, Clarissa, Bill und Daphne und Lexis verwitwete Mutter Cecile, die sich eine Art aufblasbares Kissen mitbrachte, eingeschlossen. Selbst Mr. Radley hatte sich von der Bewachung der Kekse der Nation einen Abend frei genommen, doch letzten Endes blieb sein Platz leer, genau wie Banquos.
»Wo ist dein Vater?«, flüsterte ich Frances zu, als wir darauf warteten, dass der Vorhang sich hob. Überall um uns herum rutschten Eltern und Freunde der Schauspieler erwartungsvoll auf ihren Sitzen herum, husteten ein letztes Mal und raschelten mit ihren Programmen. Ich hatte sofort die Besetzungsliste studiert. Benedick - Marcus Radley. Ein seltsamer Gedanke, dass es hier vielleicht Leute gab, die ihn als Marcus kannten. Später bewahrte ich das Programm in einer Schuhschachtel mit anderen wichtigen Andenken unter meinem Bett auf - selbst sein gedruckter Name war kostbar.
»Er hat sich im letzten Moment nicht besonders gut gefühlt«, sagte sie. »Er ist zu Hause im Bett.«
Ich wusste, dass sie log, nicht nur wegen der mangelnden Überzeugungskraft, mit der sie diese Erklärung vorbrachte, sondern wegen des Benehmens der gesamten Radley-Gesellschaft. Lexi, flankiert von Lawrence und Clarissa, saß mit dem Gesichtsausdruck einer Person, die entschlossen ist, sich ungeachtet übelster Laune zu amüsieren, starr auf ihrem Platz. Ab und zu griff Lawrence nach ihrer Hand und drückte sie ermutigend, und sie belohnte ihn mit einem zuckenden Lächeln. Bevor ich Frances weiter ausfragen konnte, erloschen die Lichter im Zuschauerraum langsam, und sie drehte sich von mir weg.
Vor Rads erstem Auftritt war ich einen Moment nervös. Würde er gut sein? Würde meine Schwärmerei einer öffentlichen Zurschaustellung von Mittelmäßigkeit standhalten? Glücklicherweise wurde meine Loyalität nicht auf die Probe gestellt: Vom ersten Satz an war klar, dass er ein Naturtalent war. Die blumigsten Lyrikzeilen wurden vorgetragen, als wären sie ihm in diesem Moment gerade erst eingefallen; es schien keine meisterhafte Gedächtnisleistung zu sein. Überall um mich herum spürte ich, wie die Leute sich wachsam, aufmerksam, erleichtert aufsetzten, wenn er auf die Bühne kam. Seine Leistung hatte den bedauerlichen Nebeneffekt, dass der Rest der Besetzung dagegen ziemlich amateurhaft wirkte. Er ließ sie als das aussehen, was sie waren - schauspielernde Schüler, die gewissenhaft ihre Rollen spielten, während er einfach Benedick war. Es war seltsam, der Verwandlung des einsiedlerischen und einsilbigen Rad in diesen selbstsicheren und großspurig auftretenden Charakter beizuwohnen. Wenn er auf der Bühne so überzeugend den liebeskranken Helden spielen konnte, schlussfolgerte ich, musste er doch sicher auch im wahren Leben ein wenig Sympathie für diesen Typen hegen?
Während der Pause wurden im Schulfoyer Erfrischungen gereicht: bitterer Kaffee und knotige selbst gemachte Kekse, auf die Frances sich stürzte, als wären sie eine Delikatesse. Von allen Seiten konnte ich Gesprächsfetzen mithören: »... dieser Junge, der die Hauptrolle spielt«, »... Bühnenpräsenz«, »... wunderbar«, »... Reife«, »... doch sicher auf die Schauspielschule, oder?«, und spürte, wie ich vor Stolz glühte, weil ich ihn kannte. Der Regisseur der Produktion, Rads Schauspiellehrer, ein kleiner, relativ junger Mann in einer schwarzen Lederjacke, schob sich durch die Menge zu uns, wobei er ein paar Glückwünsche entgegennahm. Er machte sich mit Lexi bekannt, die Rad ihm, wie er sagte, aus den Kulissen gezeigt hatte, und dann musste er uns vorgestellt werden, was etwas länger dauerte. Er hatte offensichtlich einen Riesenrespekt vor Lexi, denn als sie sich die Hände schüttelten, stieg eine leichte Röte seinen Hals hinauf und legte sich während ihres gesamten Gespräches nicht mehr.
»Mir gefällt die Aufführung sehr gut«, sagte Lexi und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Es war ihr gelungen, ihre schlechte Laune zu überwinden.
»Das ist alles Ihrem Sohn zu verdanken - er ist außergewöhnlich talentiert. Ich hatte gehofft, Sie heute Abend zu treffen, weil ich versucht habe, Rad zu überreden, sich an der Schauspielschule zu bewerben, aber er scheint etwas unschlüssig zu sein. Ich habe mich gefragt, ob Sie ihn vielleicht dazu überreden könnten.«
»Oh, ich würde meine Kinder nie zu etwas überreden, worin sie sich unschlüssig sind«, sagte Lexi fest, aber immer noch lächelnd. »Dafür respektiere ich ihr Urteil zu sehr.«
»Ja, natürlich.« Die Röte wurde noch einen Ton tiefer. »Ich will nur nicht, dass er sein Talent vergeudet - er ist wirklich außergewöhnlich.«
»Aber er ist in so vielen Dingen außergewöhnlich«, unterbrach Cecile und klapperte mit ihren Armreifen, die ständig auf ihre Spitzenmanschetten stießen. Sie hatte einen starken deutschen Akzent, obwohl Frances sagte, sie lebte schon seit über fünfzig Jahren in England. Aber von Lexis Mutter hätte ich auch nicht erwartet, dass sie ihr Verhalten änderte, nur um sich ihrer Umgebung anzupassen: Das lag nicht in der Familie. »Englisch, Französisch, Geschichte, Mathematik, Rugby, Schwimmen, Schach, Schauspielerei, Singen ...« Sie übertrieb. Rad konnte keinen Ton singen. Ich sah Frances von der Seite an, um zu sehen, wie sie die öffentliche Beweihräucherung Rads aufnahm. So etwas konnte das Selbstvertrauen unterminieren. Sie wirkte unbeeindruckt: Sie war daran gewöhnt, dass seine vielfältigen Talente aufgezählt wurden. Außerdem war sie damit beschäftigt, sich nach Nicky umzusehen. Endlich entdeckte sie ihn mit seinen Eltern, Geburtsh. und Anw., und starrte ihn so intensiv an, als könnte sie ihn durch reine Willenskraft dazu bringen, sich umzudrehen. Was sie schließlich auch tat. Er hob zum Gruß seine Kaffeetasse, und sie warf ihm eine Kusshand zu, worauf er sich vor Verlegenheit duckte.
Ein Klingeln zeigte das Ende der Pause an, und die Menschenmenge bewegte sich langsam zurück in den Zuschauerraum. Lawrence und Clarissa waren kurz rausgegangen, um eine zu rauchen. Ich konnte sie durch die Glasscheibe in der Dunkelheit sehen, in ihren privaten Nebel gehüllt. Als Entreeakt spielte ein Ensemble im Orchestergraben auf traditionellen elisabethanischen Instrumenten »Greensleeves«
»Was ist das denn für ein seltsames Ding?«, flüsterte Frances und zeigte auf eine Art verkümmerte Posaune.
»Das nennt sich shagboot (›Bumsstiefel‹)«, sagte Lawrence ernst, worauf wir drei in schallendes Gelächter ausbrachen, das erst von der plötzlichen Verdunkelung und dem Quietschen des sich öffnenden Vorhangs erstickt wurde.
Ich lehnte mich an die unnachgiebige Rückenlehne meines Holzstuhls, spürte, wie jeder einzelne Wirbel dagegen drückte, und wünschte, ich hätte Ceciles aufblasbares Kissen. Ich konzentrierte mich auf den Luxus, Rad rückhaltlos anstarren zu können - etwas, das im täglichen Leben nicht erlaubt war und genoss die spezielle Wärme, die in einem aufsteigt, wenn man jemanden, den man liebt, dabei beobachtet, wie er sich selbst übertrifft. Diese intensive Betrachtung war schwer durchzuhalten, weil Frances mich hin und wieder mit dem Ellbogen in die Rippen stieß, »shagboot« flüsterte und von neuem zu zittern und zu schnauben begann.
Gegen Ende gab es einen aufregenden Moment, als Rad sich mit dem Satz »Still! Ich stopfe dir den Mund« nach vorne beugte und Arlington auf die Lippen küsste. Ein Zittern lief durch das Publikum und legte sich sofort wieder, als der Dialog weiterging, unerbittlich und beruhigend.
Nach dem letzten Vorhang nahm Rad mit der Andeutung eines Lächelns seinen Applaus entgegen, der von einem Prasseln zu einem Tosen geworden war, während die Besetzung reihenweise nach vorne kam. Frances musste davon abgehalten werden, zwei Finger in den Mund zu stecken und zu pfeifen. »Michael soll verdammt sein«, hörte ich Lexi Lawrence durch das Klatschen zumurmeln. »Er hätte hier sein sollen. Verdammt soll er sein.«
Wir lungerten im Foyer herum und warteten darauf, dass unser Held aus den Umkleideräumen kam, während Lawrence losging, um einen Stuhl für Cecile zu suchen. Schließlich requirierte er aus dem Büro der Sekretärin einen Drehstuhl, auf dem Cecile wie ein kleiner juwelengeschmückter Gnom auf einem Giftpilz saß. Die Menge hatte sich erheblich gelichtet, als Rad auftauchte, bekleidet mit seinem üblichen schäbigen Pullover und einer Jeans. Zwischen seinen Wimpern waren noch schwarze Spuren zu sehen, und unterm Kinn verlief von Ohr zu Ohr ein Streifen braune Schminke. Er wurde sofort von der Familie überfallen, von den Frauen abgeküsst und von den Männern zwischen die Schulterblätter geschlagen. Ceciles Lippenstift hinterließ zwei violette Halbmonde auf seiner Wange.
»Gut gemacht, junger Mann. Ich nehme an, als Nächstes ist das West End dran«, sagte Onkel Bill, der in Wahrheit drei Stunden Shakespeare für eine Erfahrung hielt, die man nicht wiederholen sollte.
»Exzellente Leistung«, sagte Lawrence.
»Gut gemacht, Marcus«, sagte Cecile. Sie schlug er nicht, fiel mir auf. »Das Talent zur Schauspielerei hast du von deiner Mutter.«
»Unsinn. Er ist viel besser, als ich es war«, sagte Lexi. »Ich bin stolz auf dich«, fügte sie hinzu.
Nicky kam herübergeschlendert. »Gratulation«, sagte er und tat so, als würde er über Rads Hand katzbuckeln.
»Du warst der Beste«, sagte ich.
»Wie war es, diesen Jungen zu küssen?«, wollte Frances wissen.
»Wo ist Dad?« sagte Rad, und dann, als er sah, dass Lexi zögerte, verengten sich seine Augen, und er fauchte: »Ach, lass mich raten« und ging mit großen Schritten hinaus zum Auto.